entflügelt
„Das Klavier ist ein Tabu. Es muss zerstört werden.“
forderte Nam June Paik Anfang der 1960er Jahre.
Und tatsächlich ist die gewaltsame Behandlung des
Instruments, das wie kein anderes für die Tradition
bürgerlicher Musikkultur steht, besonders tief im
kollektiven Gedächtnis verhaftet; daran denkt der
feinsinnige Musikliebhaber zuerst und mit großer
Sorge, wenn der Begriff „Fluxus“ fällt. Dabei ist
„Fluxus“ viel mehr, wie Steffen Schleiermacher mit ein
paar Freunden auf seiner neuesten CD zeigt: Mit
großer Ernsthaftigkeit suchen und finden die Fluxisten
neue, sehr individuelle Ausdrucksformen, auch auf
dem Klavier. Mit Anklängen an Dada entstehen
Miniaturen, die auch nach über 50 Jahren mit einem
unkonventionellen Blick auf Musik und Klang
überraschen.
fließend
George Maciunas war der Initiator der
Künstlergruppe, die sich von den auf größtmöglichen
einmaligen Effekt setzenden Happenings
abzugrenzen suchten. Fluxus-Konzerte konnten
wiederholt werden; was ins Repertoire kam, blieb
allerdings im Fluss. Steffen Schleiermachers Auswahl
enthält einige Werke, die bei den Wiesbadener
„Internationalen Festspielen für neueste Musik“ 1962
aufgeführt wurden, darunter Kompositionen von John
Cage, Yoko Ono und György Ligeti. Dessen
Bagatellen bilden den Abschluss der
Zusammenstellung, sehr zur Freude des Publikums,
wie eindrucksvoll zu hören ist...
geheilt
Die Fluxus-Komponisten überließen den
ausführenden Musikern reichlich Entscheidungsfreiheit.
Sei es, dass die Komposition sich auf mehr
oder weniger konkrete Spielanweisungen
beschränkte, wie bei Yoko Onos „Overtone Piece“
und Philip Corners „Piano Activities“, oder sei es mit
einer schwer zu deutenden grafischen Partitur wie bei
Toshi Ichiyanagi oder dem Meisterkalligrafen Sylvano
Bussotti: Steffen Schleiermacher versteht es wie
kaum ein Anderer, kryptische Vorlagen in
faszinierende Klänge zu transformieren. Wie Ameisen
zur Genesung beitragen können, wird erst durch
„Fluxus“ richtig klar, wenn nämlich Ben Pattersons
„Ants“ auf Maciunas „Solo for Sick Man“ treffen; das
von Stefan Fricke interpretierte Werk ist allerdings
nicht zur Nachahmung empfohlen...
beseelt
Dick Higgins´ „Litany Piano Piece“ entfaltet eine
Atmosphäre, der Sprechkünster Harald Muenz durch
die simultane Darbietung von „Litany and Response“
von Emmet Williams eine geradezu spirituelle
Dimension verleiht. Und dann – ganz unerwartet –
bestimmen sphärische Klänge von größter Zartheit,
das „Piano Piece“ von Terry Jennings, in betörender
Schlichtheit: Auch das ist „Fluxus“!